Menschheit hat Klimakrise unterschätzt

Der nächste Klimabericht wird „alle zu Tode erschrecken“ sagt Yvo de Boer

Das Klimawissen der Menschheit wird alle fünf Jahre in einem IPCC Bericht aufbereitet. Der letzte Bericht aus dem Jahr 2008 hat die Klimakrise unterschätzt. Nun warten alle auf den nächsten Bericht, denn bislang deutet Alles daraufhin, dass sich das Klima bis ins Jahr 2100 um vier Grad erwärmen wird.

Die Menschheit führt derzeit ein wissenschaftliches Experiment mit ihrem Heimatplaneten durch. Sie hat die CO2 Konzentration in der Atmosphäre auf ein 15-Millionen-Jahre-Hoch geschraubt [1] und schaut jetzt wie das Klima reagiert: Seit Beginn dieses Experiments, also der industriellen Revolution, hat sich das Weltklima um 0,8 Grad erwärmt. Doch es wird noch wärmer, denn das Klima hat sich noch nicht voll an die erhöhte CO2 Konzentration angepasst. Dabei übertreffen die Auswirkungen der 0,8 Grad Erwärmung bereits die Schätzungen des letzten IPCC Klimaberichts. So hat dieser den Eisverlust am Nordpol deutlich unterschätzt. Gemäss IPCC hätte der diesjährige Minusrekord beim Nordpoleis erst in 50 Jahren erreicht werden sollen. [2] Mit diesen neuen Beobachtungen können die Forscher ihre Klimamodelle verbessern und einen aktualisierten Klimabericht erarbeiten. Dieser wird in den Jahren 2013 und 2014 veröffentlicht. Doch Yvo de Boer, der vorherige Chef der UN Klimakonvention UNFCCC glaubt jetzt schon zu wissen, wie der Bericht aufgenommen wird: Der Bericht „wird alle zu Tode erschrecken“. [3] Denn derzeit steuert die Welt auf eine Erwärmung von über vier Grad im Jahr 2100 zu, wie unter anderen das Climate Interactive Team der US Universität MIT ausgerechnet hat. [4] Dabei gilt zwei Grad als Grenze, nach der sich der Klimawandel selbst verstärkt und für Tausende von Jahren nicht rückgängig zu machen ist.

Doch noch ist es nicht zu spät – zumindest theoretisch: Die Unternehmensberatung PWC hat analysiert wie sich die CO2 Intensität der Weltwirtschaft entwickeln muss, damit das Zwei-Grad-Ziel noch eingehalten werden kann. [5] Die CO2 Intensität gibt an wieviel CO2 pro Dollar Wertschöpfung emittiert wird (derzeit rund 400 Gramm pro Dollar). Damit berücksichtigt sie, dass die Weltbevölkerung und die Weltwirtschaft weiter wachsen. Gemäss PWC muss jedes Jahr 5,1 Prozent weniger CO2 pro Dollar Wirtschaftsleitung anfallen. Das Problem: Ein derartiger Wert wurde seit Beginn der Messung vor 50 Jahren noch nie erreicht. Letztes Jahr hat sich die CO2 Intensität gerade mal um 0,8 Prozent verbessert. Eine Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels erscheint daher als „höchst unrealistisch“. Dabei haben die EU und die USA bereits die CO2 Emissionen vom Wirtschaftswachstum entkoppelt. Die EU hat dies mit Hilfe ihres Emissionshandelssystems, dem Ausbau der Erneuerbaren und Energieeffizienzmassnahmen erreicht. Ausserdem haben die Einspeisevergütungen für Ökostrom etwa in Deutschland kombiniert mit den Produktionskosten in China zu einem spektakulären Preisverfall bei Solaranlagen und Windrädern geführt. In den USA ist die Senkung der CO2 Emissionen der massiven Erhöhung der Schiefergasförderung zu verdanken. Gas ist in den USA nun so billig, dass es Kohle bei der Stromerzeugung verdrängt. Doch das reicht nicht, denn in den grossen Schwellenländern ist es noch nicht gelungen CO2 Emissionen und Wirtschaftswachstum zu entkoppeln: Gemäss PWC haben die sieben grössten Schwellenländer letztes Jahr 7,4 Prozent mehr CO2 produziert. [5]

Ist die Lage also hoffnungslos? Nicht ganz, meint etwa Ottmar Edenhofer, Chef-Ökonom des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK: „Für ein Zwei-Grad-Ziel benötigen wir in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts negative Emissionen.“ [6] Die Menschheit muss also der Atmosphäre CO2 entziehen etwa durch Aufforstung. Aber Bäume pflanzen reicht nicht sagt Edenhofer: “Auch wenn man das in Europa nicht gern hört: negative Emissionen sind ohne CCS und Biomasse nicht machbar.” Edenhofer spricht hier die Verpressung von CO2 im Untergrund an (CCS von englisch Carbon Capture and Storage). Die Idee ist simpel: Erst produziert man Biogas etwa mit Algen. Dabei entziehen die Pflanzen der Atmosphäre CO2. Anschliessend verbrennt man das Biogas in einem Blockheizkraftwerk und scheidet das CO2 ab, um es im Untergrund zu verpressen. So hat man nicht nur der Atmosphäre CO2 entzogen, sondern hat auch noch die Energie aus dem Biogas. Damit global gesehen schliesslich negative Emissionen erzielt werden können, müssen aber erst alle „positiven“ Emissionen auf nahe Null gebracht werden. Kurz, die Menschheit muss ihr Klimaexperiment abbrechen. Es ist in ihrem eigenen Interesse. mic

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[1] Weltbank, 19.11.2012: Turn Down the Heat: Why a 4 degree warmer world must be avoided (pdf)

[2] Climate Progress, 24.09.2012: Arctic Sea Ice: What, Why And What Next

[3] Responding to Climate Change, 07.11.2012: Next UN climate science report will “scare the wits out of everyone”

[4] Das Climate Scoreboard von Climate Interactive, abgerufen am 20.11.2012

[5] PWC, Oktober 2012: Low Carbon Economy Index 2012 (Download nur nach Anmeldung möglich)

[6] Klimaretter, 17.11.2012: “Europas Politik ist perspektivlos”