Irma und die Geisterriffe

Auf alten Seekarten verzeichnete Riffe hätten die Florida Keys besser vor Hurrikan Irma schützen können

Wie stark hat der Mensch die Umwelt verändert? Diese Frage lässt sich oft kaum beantworten, weil unbekannt ist, wie die Umwelt zuvor aussah. Jahrhunderte alte Seekarten können hier jedoch Abhilfe schaffen, denn sie sind erstaunlich genau.

Am 13. Juli 1733 legte eine Armada von 22 Schiffen in Havanna (Kuba) ab. Das Ziel war Spanien und die Fracht beinhaltete 16‘000 Pesos aus mexikanischem Silber sowie chinesisches Porzellan. [1] Zwei Tage später erreichten die Schiffe die Strasse von Florida. Dort drehte plötzlich der Wind und frischte auf. Vizeadmiral Rodrigo de Torres y Morales gab den Befehl zur sofortigen Rückkehr nach Kuba. Doch es war zu spät: Die Schatzflotte geriet in einen Hurrikan und 17 der Schiffe zerschellten am Florida-Riff oder strandeten auf der dahinterliegenden Inselkette der Florida Keys. [2]

Ausgebootet. Die spanischen Schatzflotten hatten es nicht leicht: Wenn ihnen nicht Stürme den Garaus machten, gab's Piraten oder wie hier die Briten, die nach der Silberladung trachteten. (Bild: 'Action off Cartagena', 28. Mai 1708 von Samuel Scott)
Ausgebootet. Die spanischen Schatzflotten hatten es nicht leicht: Wenn ihnen nicht Stürme den Garaus machten, gab’s Piraten oder wie hier die Briten, die nach der Silberladung trachteten. (Bild: ‘Action off Cartagena’, 28. Mai 1708 von Samuel Scott)

Die Strasse von Florida war aber nicht nur von zentraler Bedeutung für die spanischen Staatsfinanzen sondern auch von strategischem Interesse für das britische ‚Empire‘. Das Wetter liess sich zu dieser Zeit kaum voraussagen, dafür konnte man den Seeboden vermessen. Die britische Admiralität liess daher in den Jahren 1773 bis 1775 detaillierte Karten dieses Seegebiets erstellen. Die Kartografen verfügten dabei „über die beste Technologie“ und schufen damit Karten, „die grosse Macht verliehen“, erklärt Benjamin Neal vom US-Institut Bigelow für Ozeanwissenschaften. „Die Karten waren von essenzieller Bedeutung für die Expansion des britischen Imperiums und enthalten glücklicherweise auch viele nützliche, ökologische Informationen.“ [3] Denn die britischen Kartografen massen nicht nur die Wassertiefe sondern notierten auch die Art des Seebodens (Sand, Fels etc.) und beschrieben dessen tierische und pflanzliche Bewohner. Besonderes Interesse galt dabei Korallenriffen, da diese eine Gefahr für die Schiffahrt darstellten.

Detailgetreu. Britische Kartografen zeichneten im Jahr 1774 genau auf, wo Korallenriffe liegen. Davon sind einige noch da (schwarz) andere nicht mehr (rot). (Abbildung: Loren McClenachan et al.)
Detailgetreu. Britische Kartografen zeichneten im Jahr 1774 genau auf, wo Korallenriffe liegen. Davon sind einige noch da (schwarz) andere nicht mehr (rot). (Abbildung: Loren McClenachan et al.)

Diese 240 Jahre alten Karten verglichen Wissenschaftler mit modernen Seekarten und Satelittenaufnahmen. [4] Dabei zeigte sich einerseits die hohe Präzision der britischen Karten und andererseits fehlte etwas: „Wir entdeckten, dass manche Korallenriffe komplett verschwunden sind“ sagt John Pandolfi von der australischen Universität Queensland. „Es gab Korallen in manchen Gebieten, die heute noch nicht mal mehr als Korallen-Habitat klassifiziert sind.“ [3] So sind 90 Prozent der Korallen innerhalb (westlich) der Florida Keys verschwunden so wie 70 Prozent der Korallen, die direkt östlich vor den Inseln lagen. Weiter draussen im Meer war der Korallenverlust hingegen deutlich kleiner. [4] Dies legt die Vermutung nahe, dass der Korallenverlust auf den Einfluss des Menschen etwa durch Abwasser und Fischerei zurückzuführen ist. Den Grund für den Verlust von über der Hälfte der von Korallen ‚bewachsenen‘ Fläche, hat die Karten-Studie allerdings nicht untersucht.

Die unter dem Titel ‚Geisterriffe‘ im Wissenschaftsmagazin ‚Science Advances‘ veröffentlichte Studie lässt hingegen zwei andere Schlüsse zu: Erstens sind manche historische Seekarten so genau, dass sie mit grosser Verlässlichkeit die Umweltbedingungen zur Zeit ihrer Entstehung wiedergeben. Damit taugen sie, zweitens, als Vergleichsmassstab respektive als ‚Baseline‘, um die Veränderungen seither zu messen. Für den Zustand der Korallen vor Florida heisst dies nichts Gutes: „Das Ausmass der Veränderung ist viel grösser, als alle gedacht haben“, sagt Pandolfi. [3] Denn schon vor der Entdeckung der ‚Geisterriffe‘ waren Floridas Korallen in einem prekären Zustand: Nur noch zehn Prozent des 360 Meilen langen Florida-Riffs sind von lebenden Korallen bedeckt. [5] Mehrere, aufeinander folgende, Bleichen haben den Korallentierchen den Garaus gemacht. Doch dieser 90-Prozent-Verlust unterschätzt das tatsächliche Ausmass der Zerstörung immer noch, weil die ‚Geisterriffe‘ darin nicht berücksichtigt werden. „Wir fokussieren uns auf bekannte Gebiete, wo wir Veränderungen messen können“, sagt Loren McClenachan von der US-Universität Colby. „Das macht Sinn. Warum sollte man nach Korallen suchen, wo man nicht gewusst hat, dass es je welche gab?“ [3]

Am 10. September 2017 tobte erneut ein Hurrikan über der Strasse von Florida. Längst gab es dort keine spanischen Schatzflotten mehr. Die Schätze waren nun an Land – in den Villen auf den Florida Keys und in den Grossstädten auf dem Festland. Vor dem Hurrikan, Irma, war bereits Tage zuvor gewarnt worden und trotzdem war die Inselkette der Keys, dem Sturm stärker ausgeliefert als 274 Jahre zuvor, als Torres y Morales seine Flotte verlor. Denn ‚Geisterriffe‘ brechen keine Sturmfluten. Korallenriffe „fungieren als Unterwasser-Wellenbrecher, sodass nur ein winziger Teil der Wellenenergie die Küste erreicht“ erklärt Michael Beck von der US-Umweltorganisation ‚Nature Conservancy‘. [6] Wie klein der Anteil ist, hat Mann in einer Studie ausgerechnet: Korallenriffe reduzieren die Energie von Flutwellen um bis zu 97 Prozent und deren Höhe um bis zu 70 Prozent. [6] „Korallenriffe sind unsere erste Verteidigungslinie und wenn wir sie schädigen, bringen wir uns in Gefahr.“ Ähnlich sieht dies Curt Storlazzi vom ‚US Geological Survey‘, einer Behörde: „Wenn die Korallenriffe in der Karibik (und Florida) gesünder gewesen wären, wären die Überflutungen in den Gebieten dahinter geringer gewesen,“ sagte er gegenüber der Washington Post. [6] Für die 55 Opfer von Irma kommt diese Erkenntnis zu spät. Für die Zukunft könnte dafür die Entdeckung der ‚Geisterriffe‘positiv sein. Mit geeigneten Schutzmassnahmen lassen sie sich vielleicht wieder zum Leben erwecken. mic

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[1] NOAA, undatiert: The San Pedro

[2] Blue Iguana, undatiert: Shipwreck adventures 

[3] UQ News, 07.09.2017: Eighteenth century nautical charts reveal coral loss

[4] Science Advances, 06.09.2017: Ghost reefs: Nautical charts document large spatial scale of coral reef loss over 240 years

[5] Washington Post, 25.06.2017: The race to save Florida’s devastated coral reef from global warming

[6] Washington Post, 12.09.2017: Scientists say damage to Florida’s coral reef has made the state more vulnerable to storm surges