Weltklimarat unterschätzt Gefahr

Das grösste Risiko liegt in unwahrscheinlich starker Erwärmung

Was nicht modellierbar ist, kommt nicht in die Klimamodelle. Daher ignorieren diese Kipppunkte und Rückkoppelungseffekte. Zudem finden „Worst Case“ Szenarien zu wenig Beachtung, dabei steigen dort die Schäden exponentiell.

„Die Welt sieht sich einem schwerwiegenden Klimanotfall gegenüber“, sagte UN-Chef António Guterres letzte Woche und: „Dieser schreitet schneller fort, als es die besten Wissenschaftler der Welt prognostiziert haben.“ [1] Ein Beispiel dafür sind die Permafrost-Böden in Kanada wie eine neue Studie zeigt. [2] Diese tauen 70 Jahre früher auf als erwartet. “Das ist ein Zeichen dafür, dass das Klima jetzt wärmer ist als in den letzten 5000 Jahren oder mehr”, sagt Vladimir Romanovsky von der US-Universität Alaska Fairbanks. [3] Wenn die Böden tauen, bilden sich Buckel und Schmelzwassertümpel an Stelle des flachen Geländes zuvor. Romanowsky sagt, die Landschaft sehe jetzt aus wie nach einem Bombardement. [3] Was im Boden passiert, ist aber noch gefährlicher: Dort beginnen Mikroorganismen Pflanzenreste zu zersetzen und produzieren dadurch Methan. Methan ist ein stärkeres Treibhausgas als CO2. Durch das Tauen des Permafrosts beschleunigt sich folglich die Klimaüberhitzung.

Bombenkrater. Wenn Permafrost taut, bilden sich Schmelzwassertümpel. (Foto: Steve Jurvetson / Wikipedia)

Romanowskys Beobachtungen stehen symptomatisch für zwei Schwächen der Berichte des Weltklimarats IPCC und der Computermodelle des Klima auf denen dieser beruht: Kipppunkte, ab denen ein Ereignis wie das Tauen des Permafrosts einsetzt, und Rückkoppelungseffekte wie die Freisetzung von Methan. Beides lässt sich noch nicht zuverlässig modellieren und fehlt daher in den Modellen. Die IPCC-Berichte, der „Goldstandard“ der Klimawissenschaften, werden aber noch aus weiteren Gründen kritisiert, etwa wegen ihrer Sprache. Der frühere Chef des Potsdam-Instituts und IPCC-Autor Hans Joachim Schellhnuber sagt über IPCC-Autoren: Unter ihnen habe sich ein Trend entwickelt, „auf der Seite mit dem geringsten Drama zu irren“. [4] Sie stellen die Situation also besser dar als sie ist, um nicht alarmistisch zu klingen. Zudem geht der IPCC davon aus, dass sich die Erwärmung linear fortsetzt. Viele Computermodelle des Klimas zeigen aber, dass sich die Erwärmung beschleunigt. Der Unterschied: Statt erst 2040 wird die 1,5-Grad-Schwelle bereits im Jahr 2030 erreicht. [5]

Das grösste Manko sei aber die „Wahrscheinlichkeitsobsession“ (Schellnhuber) des IPCC, denn dadurch werde den gefährlichsten Entwicklungen zu wenig Beachtung geschenkt: „Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, hat wenig Sinn in den kritischsten Bereichen, wie dem Tauen des Permafrosts oder dem möglichen Kollaps ganzer Staaten.“ [4] Hinzu kommt, dass sich der Schaden etwa des Zusammenbruchs unserer Zivilisation nicht mehr beziffern lässt. Eine neue Studie des australischen Thinktanks Breakthrough schreibt: „Traditionell wird das Risiko berechnet, indem man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses mit seinem Schaden multipliziert. Aber wenn sich der Schaden nicht mehr quantifizieren lässt, kommt dieser Prozess an sein Ende.“ [4] Aber selbst im noch-quantifizierbaren Bereich unterschätzt man das Risiko, wenn man sich vor allem auf die relativ wahrscheinliche Erwärmung konzentriert und die „Worts Case“ Szenarien ausblendet. Denn bei diesen nehmen die Schäden exponentiell zu (siehe Grafik).

Dickes Ende. Die Wahrscheinlichkeit (Likelihood) multipliziert mit dem Schaden (Impact) ergibt das Risiko (Risk). Dabei zeigt sich, dass sehr unwahrscheinliche (very unlikely) Entwicklungen das grösste Risiko darstellen. (Grafik: Breackthrough [4])
Schellnhuber fordert daher, „Wahrscheinlichkeiten“ weniger und „Möglichkeiten“ mehr Beachtung zu schenken. „Dies entspricht der Szenarioplanung in der Wirtschaft, wo die Folgen möglicher Entwicklungen untersucht werden, auch wenn diese unwahrscheinlich erscheinen, aber weitreichende Konsequenzen haben.“ [4] Genau das haben die Breakthrough-Autoren getan, und ein Szenario entwickelt, bei dem sich das Klima bis zum Jahr 2050 um drei Grad aufheizt. Das ist nicht extrem. Bis zum Jahr 2050 gibt es eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent, dass sich das Klima um 3,5 bis 4 Grad erwärmt.

Um zu zeigen, wie es dazu kommen kann, erzählen die Breakthrough-Autoren eine „Geschichte“: Im kommenden Jahrzehnt wird der Klimakrise noch immer zuwenig Beachtung geschenkt und die Emissionen erreichen erst im Jahr 2030 ihre Höhepunkt. Dann ist es bereits zu spät und das Klima erwärmt sich bis 2050 um drei Grad. Rückblickend stellen Wissenschaftler dann fest, dass mehrere Kipppunkte erreicht wurden, etwa das Tauen des Permafrosts und Dürren im Amazonas Regenwald. Ein Drittel der Erde ist nun an mindestens 20 Tagen pro Jahr zu heiss, als dass Menschen im Freien überleben könnten. Die Nahrungsmittelproduktion reicht nicht mehr, um alle Menschen zu ernähren und es gibt mehr als eine Milliarde Klimaflüchtlinge.

Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Szenario eintritt, mag relativ gering sein, dennoch ist es möglich. Und genau diese „Möglichkeiten“ müssen mehr Beachtung finden, so Schellnhuber: „Das gilt insbesondere, wenn es um das Überleben unserer Zivilisation geht.“ mic

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[1] UN, 30.06.2019: Secretary-General’s remarks to Climate Summit Preparatory Meeting

[2] Louise M. Farquharson,  Vladimir E. Romanovsky,  William L. Cable, Donald A. Walker, Steven V. Kokelj, Dimitry Nicolsky in Geophzsical Research Letters, 10.06.2019: Climate Change Drives Widespread and Rapid Thermokarst Development in Very Cold Permafrost in the Canadian High Arctic

[3] Reuters, 18.06.2019: Scientists amazed as Canadian permafrost thaws 70 years early

[4] Breakthrough Institute,  August 2018: What lies beneath – the understatement of existential climate risk (PDF)

[5] Nature, 05.12.2018: Global warming will happen faster than we think