Russlands Dürre war nur ein Warnschuss

Hätte die Hitzewelle Chicago oder Peking getroffen wären die Ernteausfälle um ein Vielfaches höher

Die Weltgetreidemärkte spielen verrückt. Seit Anfang Juli ist der Preis für Weizen um 40 Prozent, der für Gerste um 16 Prozent und der für Mais um acht Prozent gestiegen. Reflexartig geben wieder viele Kommentatoren sinistren Spekulanten die Schuld, denn eigentlich gibt es weltweit genug Weizen. Dabei übersehen sie aber die eigentliche Ursache für die Nervosität der Märkte: Das russische Exportverbot für Weizen und die Überlegungen in Kasachstan und der Ukraine es Russland gleich zu tun. Ausserdem übersehen sie die Fundamentaldaten: Die Nahrungsmittelproduktion muss in den nächsten vierzig Jahren um 50 Prozent steigen, um mit der wachsenden Weltbevölkerung und dem zunehmenden Fleischkonsum in den Schwellenländern mitzuhalten. Die OECD prognostiziert denn auch, dass die Weizenpreise in den nächsten zehn Jahren inflationsbereinigt um 15 bis 40 Prozent steigen werden. Kurz, die Preise müssen steigen, damit das Angebot mit der Nachfrage mithalten kann.

Die Aufregung um die angeblich durch Spekulanten künstlich hochgetriebenen Weizenpreise verdeckt aber noch eine ganz andere, reale Gefahr: Was wenn die Hitzewelle nicht Moskau sondern Chicago oder Peking getroffen hätte? Zur Erinnerung: Russland hat dieses Jahr unter einer zweimonatigen Hitzewelle gelitten, von Mitte Juni bis Mitte August. Dabei waren die Temperaturen im Juli 14 Grad höher als im Durchschnitt. Eine derartige Hitzewelle würde auch andernorts zu enormen Ernteausfällen führen, erklärt der vielleicht bekannteste Agrarwissenschaftler und Gründer des Worldwatch Instituts Lester Brown in einem Interview mit dem Foreign Policy Magazin. „Die beiden gefährlichsten Orte für eine Dürre wie in Moskau sind Chicago und Peking. Wenn diese Hitzewelle Chicago getroffen hätte, hätten wir mindestens 150 Millionen, vielleicht sogar 200 Millionen Tonnen an Getreide verloren,“ statt 40 Millionen Tonnen wie in Russland. „An den Getreidebörsen würde Chaos herrschen.“ Ähnlich wäre es bei einer Dürre rund um Peking: „Peking liegt in der nordchinesischen Ebene. Dort wird die Hälfte von Chinas Weizen und ein Drittel von Chinas Mais produziert. Alles, was die chinesische Produktion stark reduziert, hat einen enormen Effekt auf die Welt. China müsste sich in Amerika mit Getreide eindecken. Die Preise für amerikanische Konsumenten würden dramatisch steigen und politisch gäbe es die Versuchung die Exporte zu beschränken, um die Preise unter Kontrolle zu halten.“

Noch kann sich China aber weitgehend selbst mit Nahrungsmitteln versorgen. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Die Pekinger Regierung ist hier keine Hilfe: China hält die Höhe seiner Ernteerträge und Nahrungsmittelvorräte geheim. Und dieses Jahr hat China zum ersten Mal signifikante Mengen an Mais importiert, berichtet das Wall Street Journal WSJ. Noch im Jahr 2003 hat China 15 Millionen Tonnen Mais exportiert. Doch nun schätzen Analysten, dass China nächstes Jahr fünf und bis ins Jahr 2015 gar 15 Millionen Tonnen Mais einführen muss. „Das bedeutet, dass es nun weniger Länder gibt, die die wachsende Weltbevölkerung versorgen und die Gefahr von Ernteausfällen ist ein grösseres Risiko für alle. Das führt natürlich zu mehr Unsicherheit in den Märkten und tendenziell zu höheren Preisen und stärkeren Preisschwankungen.“ sagt ein vom WSJ zitierter Experte. Neben der wachsenden Bevölkerung und dem zunehmenden Fleischkonsum in China macht Lester Brown vor allem der Verlust an Landwirtschaftsland Sorgen: „Letztes Jahr wurden in China 12 Millionen Autos verkauft. Dieses Jahr werden es voraussichtlich 17 Millionen sein. Und wenn die Zahl der Autos zunimmt, muss man Land asphaltieren. Man braucht mehr Strassen, Autobahnen und Parkplätze. Für fünf zusätzliche Autos muss man rund 4000 Quadratmeter planieren.“ Die Marge um Angebotsschocks wie den Ernteausfall in Russland zu kompensieren wird so immer kleiner, während die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen wegen des Klimawandels weiter zunimmt. Statt reflexartig Spekulanten die Schuld an den Preisausschlägen zu geben, sollte man daher besser einen Blick auf die fundamentalen Veränderungen werfen, die derzeit ablaufen. Dann versteht man auch, warum derzeit der Weizenpreis eine Risikoprämie beinhaltet. Die Märkte haben die Dürre in Russland vielleicht einfach als das verstanden, was sie ist: Ein Warnschuss von Mutter Erde. mic

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Dann abonnieren Sie doch weltinnenpolitik.net per RSS oder Email