Freier Handel gefällt nicht allen

Die Politik spielt bei der Öffnung oder Abschottung von Märkten eine zentrale Rolle

Dieser Tage verhandeln in Genf mehr als 40 Wirtschaftsminister aus aller Welt über die Bedingungen für freien Handel. Alle wollen dazugewinnen – niemand will etwas hergeben. Was bringt Freihandel? Warum ist Abschottung schlecht?

Sein Chef gab das Geld mit vollen Händen aus. Er aber sollte dafür sorgen, dass die Kriegskasse trotzdem gut gefüllt war. Jean-Baptiste Colbert, Finanzminister des «Sonnenkönigs» Louis XIV hatte in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine undankbare Aufgabe. Und so riet er seinem König: «Je mehr wir ausführen und je weniger wir einführen, desto mehr vergrössern wir die Menge des hereinströmenden Bargelds und vermehren wir die Macht, Grösse und Wohlhabenheit des Staates.» Colbert war ein Vordenker des Merkantilismus. Für ihn war Handel ein Nullsummenspiel: Was der eine gewinnt, geht beim andern verloren. Folglich wurden Exporte gefördert und Importe durch Zölle, Monopole und Verbote erschwert. Das Ziel war, sich auf Kosten der anderen Länder zu bereichern. Die Folge waren Kriege und der europäische Imperialismus.

Heute ist der Merkantilismus vom Tisch. Der Ökonom David Ricardo (1772–1823) hat mit seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile gezeigt, dass vom Handel alle profitieren. Tausch kommt demnach nur dann zustande, wenn sich beide Partner dadurch besser stellen, wenn also eine Win-win-Situation besteht. Wer Tausch verteuert, erschwert oder gar verhindert, schmälert den Wohlstand. Handel ermöglicht Spezialisierung und Skalenerträge, wodurch die Effizienz der Produktionsprozesse zum Nutzen aller gesteigert werden kann. Handel ist kein Nullsummenspiel.

Trotzdem hat der freie Handel einen schweren Stand: Zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass der internationale Handel ihrem Land schadet. Sie anerkennen zwar, dass sie als Konsumenten davon profitieren, fürchten aber, dass Arbeitsplätze verloren gehen und die Löhne sinken, wie eine Umfrage des «Fortune»-Magazins zeigt.

Auch in Europa nimmt die Unterstützung für den Freihandel ab. Zwischen 2002 und 2007 ist die Zustimmung zur Aussage «Handel ist gut für mein Land» um sechs bis zwölf Prozent zurückgegangen. Dies belegt eine US-Studie des Pew Research Center. Die Schweiz macht hier keine Ausnahme: Der Bauernverband droht bei einem möglichen Abschluss der sogenannten Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO mit dem Referendum, die Linke möchte Sozialklauseln in das Vertragswerk aufnehmen, und die SVP lehnt Verhandlungen über den Agrarfreihandel mit der EU ab.

Die Stimmung im Volk ist auch den Politikern nicht verborgen geblieben. Nun müssten sie Farbe bekennen. «Freihandel ist keine Selbstverständlichkeit. Die Politik spielt eine wichtige Rolle bei der Abschottung oder Liberalisierung von Märkten», sagt der Basler Handelstheoretiker Rolf Weder. Das Problem der Politik: Nicht alle Branchen profitieren gleichermassen. So ist etwa die europäische Textilindustrie weitgehend verschwunden. Die betroffenen Arbeiter und Unternehmen kämpfen folglich für Schutzmassnahmen. Ihnen ist dabei egal, dass sie der Allgemeinheit schaden. Denn während für die Betroffenen der Gewinn durch Schutzmassnahmen sehr gross ist – etwa der Erhalt des Arbeitsplatzes – sind die Kosten für den einzelnen Konsumenten eher gering. Das T-Shirt ist halt ein bisschen teurer. Das ist aber für kaum jemanden Grund genug, um auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren. Effiziente und professionelle Lobbys einzelner Branchen können so der Masse uninteressierter Konsumenten den Rang ablaufen.

Dieses Ungleichgewicht an Organisationsgrad und Motivation der verschiedenen Interessengruppen ist denn auch mit ein Grund, warum Handelsexperte Weder den Politikern keinen Spielraum für protektionistische Massnahmen zugesteht: Bestehen solche Möglichkeiten, würden Branchenverbände noch stärker ermutigt, Schutzmassnahmen zu fordern. «Protektionismus ist ein polit-ökonomisches Phänomen», sagt er. «Es sind sich alle einig, dass Handelsbeschränkungen insgesamt schädlich sind. Und dennoch verlangen einzelne Branchen aus purem Eigeninteresse Schutzmassnahmen. » Theoretisch gebe es zwar Situationen, in denen sich die allgemeine Wohlfahrt durch zeitlich begrenzte, protektionistische Massnahmen verbessern liessen. Das Problem sei, dass Politiker oft auf falsche Industrien setzten. «Woher wusste man, dass die Region Basel für die Pharmaindustrie besonders geeignet war? Industriepolitiker hätten vielleicht auf Autos gesetzt – und dann gegenüber Stuttgart, München oder Wolfsburg verloren», sagt Weder.

Was aber soll man tun, um die mit jedem Strukturwandel einhergehenden Härten abzufedern? Wie kann man Menschen helfen, die ihren Arbeitsplatz verlieren? «Arbeitsplätze schützen bringt nichts. Man muss dafür sorgen, dass die Leute eine neue Stelle finden», sagt der Experte. So haben 1960 noch 14,5 Prozent der Schweizer in der Landwirtschaft ihr Auskommen gefunden. Heute sind es noch 3,8 Prozent. Wichtig ist ein gut funktionierendes Sozialsystem. Weder: «Dazu gehören auch Umschulungsmassnahmen.» Davon würden alle profitieren, nicht nur einzelne Branchen. mic

Aus der Basler Zeitung vom 24.07.2008